Kleiner als drei
(ein kurzer Nachgedanke “Blut am Shirt”)
20:16 Uhr: Ich höre Musik, liege in der Sonne, meine Augen sind geschlossen. Ich habe Marie zuerst nicht bemerkt. „Sorry für die Verspätung, Packen hat doch länger gedauert als gedacht…“ „Kein Ding und äh: Hi, wie geht’s?“ Marie überlegt kurz: „Nicht schlecht, aber komisch. Was wollen wir machen?“
20:43 Uhr: Wir spazieren durch den Hain. Ich sage zu ihr: „Ich weiß es ehrlich gesagt noch nicht, meine Mutter hat Verwandte eingeladen…“ „Und wie willst du deinen sechzehnten feiern?“, fragt sie. „Naja… das hier ist…“
21:03 Uhr: Ich bleibe stehen: „Aber dann haben wir ja nicht Mal ne halbe Stunde von meinem Geburtstag!“ Sie senkt ihren Kopf: „Sorry, aber wenn ich meinen Flug erwischen will, muss ich um halb eins los…“ Sie geht weiter.
21:56 Uhr: Wir haben den Hain einmal durchquert und laufen langsam den Fluss entlang zurück Richtung Innenstadt. Sie legt ihre linke Hand auf meine rechte Schulter: „Ich werde das hier echt vermissen.“
22:12 Uhr: Marie greift in ihren Jutebeutel. „Ich hab übrigens Wein mitgebracht.“ „Aber, Mädchen, du bist noch so jung, wirf deine Jugend nicht weg…“ Sie boxt mich in die Schulter. „Arschloch…“
22:41 Uhr: „Ich will nicht, dass du deinen Geburtstag nicht genießt, bloß weil ich nicht da bin…“ Ich werde kurz langsamer, entferne etwas Dreck aus meinen Fingernägeln und suche nach einem anderen Thema.
22:54 Uhr: Wir haben uns neben der Konzerthalle an den Fluss gesetzt. Der Mond spiegelt sich im Wasser. Ich habe meine Schuhe ausgezogen und forme zögerlich kreisende Bewegungen an der Oberfläche. „Ich werd dich echt vermissen.“ Sie legt einen Finger auf meine Lippen. „Pssst!“ Sie holt den Wein wieder raus: „Trink, Kind.“
23:11 Uhr: „Gut, lass uns ein Trinkspiel spielen.“ Sie spielt schockiert: „Du willst also ein minderjähriges Mädchen zum Alkohol verführen, Charlie?“ „Noch bin ich auch noch fünfzehn… Ich darf das.“ Sie lacht: „Fair enough, an was hast du gedacht?“ „Ich hab noch nie?“ „Gut, ich fang an: Ich hab noch nie… mich beim Klauen erwischen lassen.“ „Fuck you, ich wollte da nicht mal was klauen.“ Ich nehme die Flasche und trinke.
23:37 Uhr: „Ich war noch nie… verliebt.“ Marie setzt an, trinkt vier Schlucke.
Dann schaut sie mir tief in die Augen: „Drehen wir die Spielregeln um, trink wenn du noch nicht hast: ich hab schon mal… ein Mädchen geküsst.“ Ich nehme einen Schluck, rolle mit meinen Augen: „Wie war‘s?“ Sie lächelt: „Ganz cool, ist leider nichts Ernstes daraus geworden, wir sind aber noch befreundet.“ Ich überlege kurz: „Sara?“ Sie schüttelt den Kopf: „I wish…“ Ich versuche es nochmal: „Aaliyah?“ Sie grinst nur: „Okay, für die ganzen Nachfragen darf ich nochmal: Ich hab schon mal… einen Jungen geküsst.“ „Jetzt stellst du mich einfach nur bloß…“ Ich nehme noch einen Schluck. Dann etwas leiser: „Wie ist es so?“ „Sein Mund war größer.“ „…Das meinte ich nicht.“ „Ah ha…“ Sie zieht beide Augenbrauen hoch. „Willst du es… ausprobieren?“
00:00 Uhr: Maries Handywecker klingelt. „Alles Gute zum sechzehnten, liebster Charlie.“ Wir lösen uns voneinander. Sie wühlt in ihrem Beutel, holt einen Umschlag raus: „Erst daheim öffnen.“ Dann fragt sie: „Wie war‘s?“ „Hhm,… Ich weiß nicht, anders als erwartet, komisch, aber auch schön irgendwie.“ Nach kurzem Zögern: „Ich bin froh, dass du es warst.“ Sie legt ihren Kopf kurz an meine Schulter: „Ach, Charlie…“ Ich versuche, mein Hemd wieder zurecht zu richten. „Wie war es für dich?“ Sie überlegt kurz: „Auch anders als erwartet, weniger Schmetterlinge mehr… Caipirinha?“ „Was?“ Sie wendet ihr Gesicht ab von mir, blickt den Fluss entlang. „Fuck, ich werd dich so vermissen.“ Zögerlich versuche ich es ein letztes Mal: „Wir müssen noch nicht gehen…“
00:16 Uhr: Wir stehen vor ihrer Eingangstür. „Versprich mir, du wirst deinen Geburtstag richtig feiern, versprich mir, du wirst ihn groß feiern - mit allen deinen Freunden und versprich mir, du wirst Spaß dabei haben!“ „Versprich du mir, du wirst Freunde finden in Irland, Freunde, die dich lieben und respektieren, so wie du bist.“ Sie lächelt, senkt ihren Kopf leicht. „Ich werde dich echt vermissen, Charlie. Versprochen.“ „Ich werde dich auch vermissen. Versprochen.“
Marie dreht sich um, geht ins Haus. Ich steh noch kurz da, versuche Löcher in die Tür zu starren. In meinem Magen macht sich ein Ziehen breit. Es wandert bis zu meiner Kehle, schnürt mir die Luft ab. Als es zu stark wird, drehe ich mich um, stecke mir Kopfhörer in die Ohren und mach mich auf den Heimweg.
09:32 Uhr: Erst am nächsten Morgen öffne ich ihren Brief: Ein Satz. Sechs Worte: Ich hoffe du hattest Spaß heute und unten rechts, im Eck, ein <3