Letzte Worte 

 

„Hat jemand Lust, noch mit ins Wasser zu gehen?“

 „Ich.“ 

„Mir ist es noch zu kalt.“

 „Ich denke, ich bleibe bei Winter, ich müsste eh dringend mal aufs Klo gehen.“ 

„Ich komme gleich nach. Gebt mir noch so 5 Minuten.“ 

„Oke, bis gleich.“

Während die anderen beiden aufstanden, sich ihrer Hemden entblößten und zum Fluss gingen, drehte sich Herbst zu mir: „Dann würde ich mich mal kurz entschuldigen, solange du noch Winter Gesellschaft leistest. Bis gleich!“ 

Sie entfernte sich in die andere Richtung. Ich nutzte die Zeit, um meinen Blick über Winter schweifen zu lassen: Er war nett, unglaublich nett, und ich mochte ihn wirklich gerne. Von allen in der Gruppe mochte ich sie vielleicht sogar am meisten, doch ich war mir nie wirklich sicher, ob Winter mich auch mochte oder nur höflich war. 

Es gab eigentlich keinen wirklichen Indiz für diese Zweifel, außer dass es absolut zu ihm passen würde. Ich konnte ihr das nicht mal übel nehmen, wir sind uns da ziemlich ähnlich: Wenn wir einen Menschen nicht mögen, vermeiden wir die gegenseitige Unannehmlichkeit, alle Anwesenden mit unserer Antipathie zu konfrontieren. Wir nehmen uns da nicht so wichtig, schlucken unsere persönlichen Abneigungen runter und gehen den Personen nur so weit aus dem Weg, dass es nicht weiter auffällt. 

„Ich habe es letztens endlich mal geschafft, Over the Garden Wall zu schauen.” 

„Und wie fandest du es?“

Irgendwie hat sich für mich Zeit, die ich mit Leuten zu zweit verbracht hatte, schon immer wichtiger angefühlt als solche, die ich in größeren Gruppen verbrachte. Meist empfand ich Zweiteres eher als isolierend. Deshalb wollte ich heute auch nochmal kurz mit allen Leuten zu zweit reden, und da Winter diejenige ist, die meistens als Erste gehen muss, wollte ich noch kurz mit ihr draußen bleiben, bis Herbst kommt. 

„Voll putzig, ich liebe Greg - und den Frosch erst!“

„Oh ja, aber die letzten zwei Folgen...“ 

Eigentlich ist es komisch, ausgerechnet jetzt über eine Serie zu reden, aber es fühlt sich auch irgendwie richtig an: Es war schon immer unser Ding, über irgendwelche Sachen zu reden, die nur wir schauten, hörten oder lasen. Vielleicht ist das tatsächlich das richtige Gespräch für heute Abend. 

„It‘s so sad...“ 

„...“

„...“

„Winter?“

„Ja?“

„Hey Leuts!“

Herbst ist zurück…

Naja, wir hatten unser Gespräch. Und Hoffnungen auf mehr, auch wenn ich nie genau wusste, was „mehr“ eigentlich bedeutete, fühlten sich auch passend an. 

„Ich geh dann mal zu den anderen.“ 

„Oke, vielleicht können wir ja später weiter reden.“ 

„Ja, vielleicht.“ 

Vielleicht. 

„Viel Spaß!“

„Danke, euch auch!“ 

Ich ging zum Fluss, der an dieser Stelle besonders langsam floss und mit einem Meter vierzig auch noch relativ flach war. Als ich langsam zum Wasser ging, kam mir gerade Sommer entgegen gehumpelt.

„Alles gut?“ 

„Ja, alles gut. Ich hab mir nur gerade den Fuß an einem Stein ein bisschen aufgeschnitten, aber halb so wild. Geh schon mal rein, ich komme vielleicht gleich wieder nach.“ 

Jetzt also Frühling, mein Plan ging besser auf als erwartet. 

„Fang!“ 

Frühling warf mir auf 20 Meter etwas entgegen, was sich als nasser Tennisball herausstellen sollte. Ich ließ ihn zwei Meter neben mir ins Wasser fallen, schwamm ihr fünf Meter entgegen und warf dann den Ball wieder zurück. 

„Wie geht‘s so?“ 

„Ganz gut. Sommer hat sich gerade den Fuß verletzt. Hast du das mitbekommen?“ 

„Ja, ist mir gerade entgegen gelaufen.“ 

Von allen meinen Freunden, die heute da sind, ist Frühling eindeutig die Person, auf die am ehesten zutrifft, was ich vorhin über mich und Winter gesagt hatte. 

Es ist nicht so, dass ich ihn für eine schlechte Person halte oder Ähnliches, wir haben einfach kaum gemeinsame Interessen oder Ansichten. Und unser Humor ist auch ziemlich unterschiedlich. 

„Hattet ihr jetzt eigentlich ein Spiel dieses Wochenende?“ 

„Alter, wir waren schon wieder nur neun Leute. Gut, Lars hat nen Kreuzbandriss und Sahra ist auf Schüleraustausch, aber ich weiß von mindestens drei Leuten, dass sie einfach nur nen Kater hatten, und Felix...“ 

Manchmal fühle ich mich schlecht, wenn ich zu abweisend oder genervt von Frühling bin, an anderen Tagen denke ich mir einfach nur, ich könne ja auch nichts an meinen persönlichen Sympathien ändern und ich mache ja das Beste daraus. Heute versuche ich einfach ein letztes Mal eine aufrichtige Verbindung zwischen uns aufzubauen.

 „… Felix hat halt einfach wieder keinen Bock. Und dann ist auch Eva mal wieder krank geworden. Die ist ja eigentlich echt gut und auch motiviert, aber aushalten tut sie gar nichts.“

„Also konntet ihr dann nicht antreten?“

 „Ne.“ 

„Mein Beileid!“ 

Ich versuchte die Rage, in die sie sich geredet hatte, ein bisschen durch ein ironisches Lachen zu mildern, vergeblich.

„Warum wechselst du den Verein eigentlich nicht?“ 

„Naja, einmal kann ich zu sonst keinem in unter 15 Minuten fahren und außerdem sind die anderen eh alle scheiße.“ 

Schon seit ein paar Jahren irritiert mich die Leidenschaft, die andere für irgendetwas empfinden können, aber manchmal beneide ich sie auch, und ich glaube, das ist traurigerweise der gesündeste Umgang damit, den ich noch bieten kann. 

„Naja, gut, dann hoffe ich mal für euch, dass ihr nächste Woche genug Spieler zusammen bekommt.“ 

„Safe, nächste Woche ist Derby, Alter, die machen wir so platt!“ 

Ich versuche, mich zwar für Frühling zu freuen, aber sobald ich beginne, die Gefühle zu verstehen und wertzuschätzen, die ich in ihm verspüre, lässt mich ein Gedanke nicht mehr los: „Warum kann ich das nicht haben? Ich will das auch.“ 

„Wie läuft es mit Klara?“

„Gut, was soll sein?“

Es sind Momente wie dieser, die es mir schwer machen, heute Nacht noch abwarten zu können.

„Lass mal zählen, wie oft wir es schaffen, hin und her zu werfen. Aber man darf den Ball nur fünf Sekunden in der Hand behalten.“

„Ok, werf her!“

 

 

Wir verbrachten so noch etwa eine halbe Stunde, bis wir entschieden, wieder rauszugehen. Normalerweise wäre ich jetzt sozial ausgelaugt und bräuchte wieder meine Zeit alleine, doch mein Körper hatte längst verstanden, dass heute kein normaler Tag sein sollte. Da er schon seit ein paar Tagen aufgehört hat, mir mein Dopamin zu entziehen, und seit heute morgen endlich nur noch die nötigen Reize verarbeitete, fielen mir Mensch-zu-Mensch Kontakte irgendwie deutlich leichter.

 

„Ah, gut, dass ihr kommt. Wir wollten gerade jemanden zu euch schicken.“

„Habt ihr euch wohl Sorgen gemacht?“

„Haha, nein.“

„Wir haben nur langsam Hunger.“

„In meiner Tasche wären noch zwei Laugenstangen; wenn ihr wollt?“

„Also, ich hätte Lust auf was Richtiges.“

„Ja, same.“

„Oke, dann gehen wir in die Stadt?“

„Ja, lass gehen.“

Zur „Stadt“ war es nicht weit von hier, eigentlich waren wir schon in der Stadt oder zumindest am Rand von ihr. Der Weg von hier zur Innenstadt würde in etwa eine halbe Stunde zu Fuß dauern, aber wir waren alle mit dem Fahrrad da und konnten den Weg in fünf bis zehn Minuten zurücklegen.

 

 

„Auf was habt ihr so Hunger?“

„Ich würde mir einfach einen Döner holen.“

„Wenn du zum City-Snaxx gehst, komm ich mit.“

„Ich würde zur Box gehen.“

„Du?“

Ich war mir gar nicht sicher, ob ich heute überhaupt was essen wollte - hatte ich den ganzen Tag noch nicht. 

Einerseits dachte ich mir, wenn nicht heute, wann wäre eine bessere Zeit, sich was richtig zu gönnen; andererseits hatte ich Angst davor, dass das Ganze sehr unschön enden könnte. Dann fragte ich mich aber auch immer wieder, warum ich mir ausgerechnet darum so viele Sorgen machte. Am Ende hatte ich aber eh keinen Hunger, und das war, was zählte.

„Ich weiß nicht, ich hab ehrlich gesagt noch nicht so Hunger.“

„Winter, was willst du eigentlich?“

„Hmm, ich weiß es noch nicht genau… Vielleicht Pizza?“

„War das eine Frage?“

„Ja, ich nehm Pizza.“

„Gut, dann würde ich vorschlagen, ihr drei geht zu City Snax und ich geh mit Sommer zu The Box. Dann kann ich mir ja noch überlegen, ob ich was will oder nicht.“

„Oke, bis gleich!“ 

„Bis gleich!

Treffen wir uns dann einfach hier wieder?“

„Ja, klingt gut, bis gleich!“

Von allen meinen engen Freunden stach Sommer irgendwie heraus. Sie war mit Abstand die aufgeschlossenste, sozialste und extrovertierteste unserer Gruppe. Obwohl wir eine zugegebenermaßen sehr enge Beziehung hatten, war ich mir nie sicher, wie besonders das für ihn war. Soweit ich wusste, könnte sie vielleicht zwei, drei oder fünfzig Freundschaften, vergleichbar mit unserer, haben. 

Eigentlich sollte es zwar keine Rolle spielen, unsere Beziehung war ja nie durch Exklusivität geprägt, und ich hatte auch nie das Bedürfnis nach mehr Zeit oder Aufmerksamkeit von ihm, mein Problem war aber viel mehr, dass ich schon immer versuchte, mein fehlendes Selbstwertgefühl durch extern gemessenen Wert zu kompensieren. Bei Sommer funktioniert das nicht.

„Wie ging‘s dir jetzt eigentlich die letzten Tage?“

„Gut, gut.“

Er blieb stehen und schaute mich direkt an.

„Wirklich?“

„Ja, ja...“

„Wie du meinst.“

Ich bin unglaublich schlecht im Lügen, aber zum Glück sah Sommer noch nie unnötigerweise meine psychische Gesundheit als ihre Verantwortung an.

„Übrigens, ich wollte mich noch mal persönlich entschuldigen, dass ich an dem Tag nicht konnte.“

„Alles gut, ich bin ja am Ende dann doch klar gekommen.“

Mehr oder weniger…

„Perfekt, hast du dich schon entschieden, was du essen willst?“

„Vermutlich ess ich noch nichts.“

„Dann lass aber mal im Budni was für später kaufen.“

„Ok“

 

 

Wir kauften einen Rotwein, einen Tomaten-Paprika-Aufstrich und jede Menge Gebäck.

„Ich hab eigentlich jetzt mehr Bock auf diesen geilen Aufstrich als auf Pommes… wollen wir schon mal zurücklaufen und einfach das Zeug hier essen?“

„Gerne“

„Halt mal.“

Sommer gab mir das Gebäck und die Flasche, um den Aufstrich zu öffnen, dann nahm er wieder das Gebäck, holte sich eine Laugenbrezel aus der Tüte und begann, diese in den Aufstrich zu tunken. 

„Willst du auch was?“

„Noch nicht.“

„Wollen wir den Wein schon mal öffnen?“

„Hmm..."

Ursprünglich hatte ich eigentlich vor, heute meinen Verstand nicht zu betäuben, doch irgendwann in den letzten Jahren hatte mein Gehirn gelernt, den Geschmack von Alkohol mit guter Zeit zu verbinden, und ich hatte schließlich heute was zu feiern. 

„Gerne.“

Außerdem, was machen schon zwei, drei Schlucke Wein?

„Wollen wir hier auf die anderen warten? Ich würde mich gern zum Essen hinsetzen.“

„Klar, ich schreib ihnen.“

Ich öffnete die Flasche Wein, nahm einen Schluck und gab ihr die Flasche, bis mir die Verletzung einfiel.

„Wie geht es eigentlich deinem Fuß? Du bist ja dann doch nicht mehr ins Wasser gekommen.“

„Nichts dramatisches, Herbst war nur besorgt, dass sich vielleicht was infizieren könnte, wenn ich direkt wieder ins Wasser geh.“

Warum hatte ich nicht schon viel früher daran gedacht? War mir das Wohl einer meiner engsten Freunde etwa egal? Um herauszufinden, ob man selbst ein guter Mensch ist, muss man lernen, sich selbst in den unwichtigsten Alltagssituationen zu beobachten, denn dort offenbart sich der Charakter.

Ich wusste schon lange, was für ein Mensch ich war.

„Haha, typisch Herbst!“

„Ich glaub, dahinten sind die anderen. Lass sie mal her winken.“

Alle aßen, was sie noch bei sich hatten - also alle außer ich. Das restliche Gebäck packte Winter in seine Tasche. Frühling wollte sich auf den Heimweg machen, weil sie morgen einen Arzttermin hatte. Wir begleiteten ihn noch ein Stück, dann saßen wir alle ein bisschen bei der Oberen Brücke zusammen, redeten über Unterschiedlichstes und hörten ein bisschen Musik. Langsam war ich schon positiv überrascht, dass Winter überhaupt noch da war.

 

 

„Ich sag es nur relativ ungern, aber ich muss auch mal gehen.“

„Och, nö, wieso?“

„Ich muss morgen doch noch ne Prüfung nachschreiben.“

„Was ist mit euch? Bleibt ihr noch länger?“

„Ja.“

„Also ich hätte noch so eine Stunde Zeit, Sam hat mich schon vorhin angerufen und gefragt, wo ich bleib.“

„Okay, dann begleite ich noch Herbst zu ihrem Fahrrad und wir sehen uns gleich wieder.“ Während wir uns verabschiedeten, dachte ich über eine Ausrede nach, mit der ich mich, sobald ich zurückkam, am besten endgültig verabschieden könnte. Ich hatte zwar heute wirklich irgendwie aufrichtig Spaß gehabt, aber es war mittlerweile schon elf und ich wollte es auch nicht Ewigkeiten aufschieben.

Ich plante, mein Gespräch mit Herbst abzuhaken, dann noch so eine halbe Stunde zu warten, bevor ich behaupten würde, ich sei müde, falls die anderen bis dahin nicht von selbst schon gegangen wären. Als ich aus meinem Grübeln ausbrach, fiel mir auf, dass wir schon den halben Weg gelaufen waren… ohne ein Wort zu wechseln.

„Hey, alles gut bei dir?“

„Ja, sorry, ich war gerade nur kurz in Gedanken verloren.“

„Ich meinte, nicht gerade eben, ich meinte allgemein.”

„Achso, naja, ähm, ja, du kennst es ja.“

 

Sie blieb stehen.

„Ja, aber läuft es gerade ok oder kann ich dir irgendwie helfen?“

„Ne, alles gut, ich hab gerade einen Weg eingeschlagen, der für mich funktioniert.“

„Aber du kommst zu mir, wenn es dir schlecht geht.“

Ich wollte diese Frage heute nicht beantworten. Das fühlte sich heuchlerisch an. Ich holte tief Luft

„Herbst, du weißt, wie wichtig unsere Freundschaft für mich war. Du bist einer der liebenswürdigsten Menschen, die ich kenne...“ Das war Teil meiner Briefe. Den Teil hatte ich auswendig gelernt, um ihn ihm persönlich zu sagen. „Lass dir nie von jemandem etwas anderes sagen! Danke, dass du so für mich da bist!”

Sie schaute durch mich durch, wirkte gar nicht mehr präsent, als stünde sie unter Schock. Ich umarmte sie, sie schien sich zu fangen.

„Kommst du gut nach Hause?“

„Ja. Bis bald! Hab dich lieb.“

„Hab dich lieb, gute Nacht!“

Sie wusste es. Ich fühlte mich schlecht. Ich hätte die Situation deutlich besser handhaben müssen. Ich fühlte mich schlecht. Ich wollte nur noch heim, aber davor sollte ich mich wenigstens von den anderen verabschieden.

 

 

♫I, I know you gotta leave, leave, leave

Take down some summertime

Give up, just tonight, 'night, 'night.♬*

 

„Ja, ist schon ein nicer Song, aber was für ein Downer."

„True.“

„Bin wieder da.“

„Ah, so schnell schon wieder?“

„Ja, Herbst war echt müde... Und ich...“ erzwungenes Gähnen „...langsam auch.“

„Ich würde mich so in einer dreiviertel Stunde auf den Weg machen, ich will nicht allzu früh dort aufkreuzen. Bleibst du noch so lange?“

„Ich bleibe noch ne halbe Stunde, oke?“

„Deal.”

Er hob die Weinflasche, gab sie mir, ich nahm einen Schluck, gab sie Winter, sie nahm einen Schluck und die Flasche war leer.

„Was haben dir eigentlich deine Eltern heute für ein Zeitlimit gegeben?“

Winter schaute auf den Boden.

„Ich schätze, ich geh, wenn du gehst.“

 

 

„Ich sag es ja nur ungern, aber Sam wartet.“

Am Ende sind wir sogar noch eine Stunde geblieben, weil ich nicht nein sagen kann.

„In welche Richtung musst du jetzt?“

„Nicht zu den Fahrrädern...“

„Oke, dann tschau.“

„Tschau.“

„Byee, euch ne gute Heimfahrt!“

„Dir noch viel Spaß mit Sam! Bye!“

„Tschau!“

„Bis bald!“

Okay, ich musste jetzt nur noch ein paar Sätze mit Winter wechseln, bevor ich endlich heim konnte.

Er sah zu mir rüber und fragte: „Mond?“

Ich zuckte leicht zusammen, als sie meinen Namen aussprach.

„Ja, was ist?“

„Können wir kurz reden?“

„Ähm, klar. Sollen wir uns setzen?“

Was war jetzt?

Wusste er es auch?

Hatte Herbst ihr geschrieben?

Ich konnte mich jetzt nicht rechtfertigen.

„Es geht um meine Eltern.“

In dem Moment realisierte ich, dass es nicht um mich ging und er vielleicht meine Hilfe brauchte, vergaß ich kurz meine Pläne und dass ich eigentlich schon längst nach Hause wollte. Als sie mir ihre Schmerzen preisgab, spürte ich nichts außer ihr Leid und wollte nur noch helfen. Ich nahm seine Hände und fragte ihn: „Was ist mit deinen Eltern?“

„Ist das okay, für dich?“ fragte sie mich, „Ich will mich nicht aufdrängen.“ 

Ich hielt seine Hände und sah tief in Winters Augen: „Heyy, ich hab das schon mal gesagt, wenn ich dir helfen kann, helf ich dir gerne.“ 

„Ich hatte Streit mit meinen Eltern,“ gestand sie, „aber dieses Mal war es irgendwie schlimmer.“ 

Ich umarmte ihn. Sie erwiderte die Umarmung, wir verharrten so, ich flüsterte ihr ins Ohr: „Willst du darüber reden?“

„Nicht unbedingt, zumindest jetzt nicht,“ gab Winter zurück. Dann, nach ein paar Sekunden: „Kann ich vielleicht heute bei dir übernachten?“ 

Ich dachte in dem Moment noch nicht daran, wie jetzt mein Zimmer aussah oder wie das meine Pläne über einen Haufen warf, sondern antwortete: „Selbstverständlich, sollen wir losfahren?“

„Noch nicht.“

 

 

Wir standen noch etwa fünf Minuten so in der Nacht, bis wir zu mir fuhren. Wir sprachen in der Zeit kein Wort. Während der Fahrt dachte ich zum ersten Mal wieder über meine Pläne nach, doch es stand für mich längst nicht mehr zur Debatte, ob ich heute noch zu diesen kommen würde. Deshalb warnte ich ihn, als wir unsere Fahrräder abstellten, dass er noch kurz draußen warten sollte, während ich mein Zimmer aufräumen würde. Ich versteckte alles Verdächtige in einer Schublade.

 

 

„Kannst kommen.“

„Noch einmal vielen Dank, dass du mich aufgenommen hast.“

„Kein Ding.“

Wir machten uns bettfertig. Als ich gerade Zähne putzend in meinem Bad stand – Winter zog sich vermutlich in meinem Zimmer um -, brach es plötzlich über mich herein. Was mache ich hier? Winter braucht eindeutig meine Hilfe. Herbst hatte ich vermutlich schon das Herz gebrochen und selbst Sommer schien zumindest leicht um mich besorgt zu sein. Wie konnte ich es mir herausnehmen, sie alle so zu betrügen? Seit Jahren schon redete ich mir immer wieder ein, ich wäre bestimmt niemandem so wirklich wichtig, weil ich nicht so egoistisch sein wollte, von irgendeinem Individuum anzunehmen, dass ich ausgerechnet die Person sein könnte, die ihnen etwas wichtiger ist als jede andere.

Erst jetzt hier, Zähne putzend in meinem Bad, mit einer meiner besten Freundinnen, mich um Hilfe fragend, realisierte ich, wie egoistisch ich war, die Gefühle meiner Freunde die ganze Zeit herunterzuspielen, um tiefer in meinem eigenen Selbstmitleid zu ertrinken und sie am Ende ohne schlechtes Gefühl zu verlassen.

Für meine größte Angst, den Menschen um mich herum zu schaden, gab es eigentlich nichts Schlimmeres.

Trotzdem hätte ich es aus eben dieser Angst fast getan.

Mir wurde fast schwarz vor Augen, ich stützte mich zuerst auf das Waschbecken und spuckte die Zahnpasta aus, während ich langsam die Kontrolle über meine Beine verlor.

Ich schaffte es noch zwei Schritte gegen die Heizung hinter mir zu stolpern, bevor ich langsam an der Heizung entlang zu Boden sackte.

Wieder einmal fühlte ich mich schlecht.

Ich weiß nicht, wie lang ich dort saß, aber irgendwann sah ich zur Tür und realisierte, wie Winter dort stand und mich fragend ansah: „Geht es dir gut?“ 

„Ja, nein, weiß nicht, ich arbeite dran…

… Hast du Lust, noch was zu essen?“

  












*~ Frank Ocean, Self Control